Ein halbes Jahr auf Wanderuni – Sechs Monate, sechs Menschen
Die Anforderungen an unsere Generation sind hoch: Nach dem Schulabschluss direkt ein Studium beginnen, oder zumindest eine Ausbildung. Dann nichts wie in die Arbeitswelt, Karriere machen und eine Familie gründen! Bloß keine Zeit verlieren!
Doch wo bleibt da Zeit für uns? Zeit für tiefgehende Lebenserfahrung, Zeit uns selbst zu finden?
Es sind Fragen wie diese, die uns zusammengebracht haben: Sechs junge Menschen zwischen 20 und 26 Jahren, alle mit der großen Sehnsucht unser Leben bewusster und lebendiger zu gestalten und auf der Suche nach dem, was uns wirklich erfüllt. Mit dieser Intention gründeten wir die Wanderuni: Ein Selbstversuch, bei dem wir erproben das Reisen mit dem eigenverantwortlichen Lernen und dem Leben in Gemeinschaft zu verbinden. Ein Projekt, bei dem das soziale Miteinander, Eigenverantwortung und Selbsterfahrung im Vordergrund stehen – also jene Ressourcen, die in meisten den Bildungseinrichtungen unserer Zeit viel zu kurz kommen.
- Monat – April – Emil
Endlich geht es los. Schon vor zwei Jahre war in mir die Idee der Wanderuni entsprungen, als ich mit den Funkenfliegern, einer kleinen Bildungsbewegung, nach Berlin wanderte. „Könnte ich nicht immer so unterwegs sein?“, fragte ich mich da und erträumte mir große Visionen: Von einem deutschlandweiten Wanderuni-Netzwerk, bestehend aus vielen Lernorten und etlichen umherziehenden Wanderstudenten mit den verschiedensten Studienthemen.
So kam es, dass ich mich an vier Wochenenden mit Menschen zusammenfand, die dieses Interesse mit mir teilen. In intensiven Findungsprozessen tauschten wir unsere Erwartungen und Hoffnungen aber auch Ängste aus, kristallisierten heraus, welche Themen uns interessieren und suchten nach potentiellen Referenten und Lernorte. Es gab auch viel Fluktuation über die Treffen hinweg: Nicht jeder wollte für ein halbes Jahr einen solch großen Schritt wagen – zwischenzeitlich war nicht klar, ob das Projekt wirklich zustande kommen würde – bis wir uns letztendlich doch beim letzten Termin mit einem klaren Ja dafür entschieden.
Doch jetzt, am ersten Tag, kommen bei mir starke Selbstzweifel auf. Während unseres ersten Workshops im Elztal zu Gewaltfreier Kommunikation finde einen Raum dafür, meine Sorgen auszusprechen und mit allen zu teilen. Noch eine Woche bleibe ich an diesem Ort, um mich selbst zu ordnen, während die Gruppe weiterzieht.
- Monat – Mai – Fritzi
Wir begegnen vielen herzlichen Menschen und werden immer wieder von großzügiger Gastfreundschaft überrascht. Wir bekommen Obdach, mal in einer alten Schule, einer Scheune oder in einem Pfarrhaus. Brot wird uns geschenkt und wir werden zum Essen eingeladen. Durch Erzählungen über unser Projekt oder kleine Arbeitsverrichtungen versuchen wir stets wieder etwas zurückzugeben.
Die Langsamkeit des Wanderns bringt mich mehr in meine Mitte. Da es kaum noch feste Termine einzuhalten gibt, an denen ich mich orientieren muss, werden das Aufstehen und Schlafengehen sowie die täglichen zwei Mahlzeiten zu den einzigen Ankerpunkten. Ich weiß nicht, was mich als nächstes erwartet und fühle mich dadurch viel stärker mit dem Hier und Jetzt verbunden. In einem kleinen Selbstversuch reizen wir diese Erfahrung noch weiter aus: Eine Woche lang verbannen wir alle Uhren, Handys und auch Landkarten in die hintersten Winkel unserer Rucksäcke und richten uns allein nach den Rhythmen und Hinweisen aus, die die Umgebung uns gibt.
Währenddessen experimentiere ich viel mit der Form meines Gehens. Manchmal wandere ich so leise und aufmerksam wie möglich, ohne etwas Bestimmtes zu fokussieren. Landschaften, Bewegungen, Geräusche, Windstöße – all das will ich auf einmal wahrnehmen. Nur beobachten, ohne dabei zu bewerten. Mal laufe ich wild und laut, singend und mit den Armen schwingend. Und manchmal gehe ich verträumt und in mich gekehrt. Dabei beobachte ich aufmerksam meinen Körper und lerne ihn besser zu verstehen.
- Monat – Juni – Tobias
Plötzlich bin ich wieder ganz auf mich gestellt. Wir haben beschlossen uns für ein paar Tage zu trennen, um dem Selbst Zeit für Besinnung, Reflektion und Inspiration zu geben.
So selbstverständlich mir unser Projekt beim täglichen Zusammensein schon erschienen war – auf meiner Wanderung alleine durch den Thüringer Wald wird mir wieder bewusst, wie besonders diese Reise für mich ist. Lange habe ich einen eher konventionellen Lebensstil aus einer Kombination von Soziologiestudium und Arbeit geführt und für all die Dinge des täglichen Bedarfs bezahlt – nun bin ich komplett aus meinem Alltag entronnen:
Mein Kopf ist frei von Verpflichtungen und Leistungsdruck, stattdessen führe ich gerade ein Leben in vollkommener Einfachheit. All das was ich brauche trage ich auf meinem Rücken; Containern, Trampen und die Suche nach einem sicheren Schlafplatz gehören nun zu meinen neuen täglichen Herausforderungen.
Doch beim alleine Unterwegssein fühle ich mich auch oft mit tiefer Einsamkeit konfrontiert. Anstrengende und schwierige Situationen tauchen auf, als wollten sie mir sagen: “Lerne endlich dir selbst genug zu sein!” In einer regnerischen Nacht finde ich keine trockene Bleibe, in einer anderen bekomme ich es mitten im stockfinsteren Wald so richtig mit der Angst zu tun. Dennoch, an Herausforderungen kann ich wachsen und werde bewusster in meinem Handeln. Ich lerne, dass auf schwierige Situationen immer auch wieder gute folgen: In Erinnerung bleibt mir vor allem das Trampen mit einer Familie, die mich so herzlich aufnimmt, als gehörte ich dazu – dabei erfahre ich von der Mutter, wie sie aufgrund von Knochenkrebs ein Bein verlor und gerade aus dieser Erfahrung heraus zu neuem Lebensmut fand. Ich bin zutiefst gerührt und verspüre: Genau solche authentischen und schönen Begegnungen voller Menschlichkeit und solche tiefen Gespräche geben mir Kraft. Dafür bin ich hier!
- Monat – Juli – Pia
Unsere Gruppe zählt nun sechs Menschen, denn spontan habe ich hier für mich genau das richtige Projekt mit den richtigen Menschen gefunden habe und lege mein Studium erstmal auf Eis.
Mit meiner neuen Wahlfamilie baue ich nun in den Werkstätten des FEZ in Berlin einen Fahrradbus – ein Gefährt mit sechs Plätzen bei dem jeder mittreten muss, gleichzeitig die Hauptverantwortung an einen Lenkenden abgegeben wird.
Für die nächsten zwei Monate verändert dieses große, ungewöhnliche Fahrzeug die Art unseres Unterwegsseins erheblich. Wir kommen schneller voran, befahren Radwege oder Straßen und die Menschen schenken uns noch mehr Aufmerksamkeit. Auf einmal steht in den täglichen Begegnungen unser Gefährt im Vordergrund und es kostet manchmal Mühe den Menschen gleichzeitig unsere Wanderuni-Ziele zu vermitteln. Auch unsere Kommunikation muss sich verändern: Auf diesem Untersatz spielt das gemeinsame Vorankommen in der Gruppe, dem sich der Einzelne hingibt, eine noch viel größere Rolle. Das kann einerseits befreiend sein, bürgt aber auch Konfliktpotenzial. In langen Aussprachen diskutieren wir, wie weiterhin die individuellen Bedürfnisse berücksichtigt werden können.
Wir besuchen alternative Lebensformen: Wagenplätze, Wohnprojekte und Lebensgemeinschaften, oftmals mit Werkstätten, Gemeinschaftsgärten und Komposttoiletten und dem Anspruch auf ein bewussteres und verantwortungsvolleres Leben. Spätestens als wir unsere Schlafsäcke in Klein Jasedow ausbreiten, stellt sich mir die Frage: Wie will ich mein Leben führen – auch nach der Wanderuni? Was ist mir wirklich wichtig? Es gibt in der Welt viel zu viel zu entdecken, als wieder in den „Normalalltag“ zurückzukehren.
- Monat – August – Markus
Chcę się nauczyć polskiego – Ich möchte gerne polnisch lernen.
So begann mein Oktober. An der polnischen Ostsee verbrachten wir die längste Zeitspanne an einem Ort: Rund zwei Wochen lang genießen wir die neuen Möglichkeiten und Freiheiten, die diese kurze Sesshaftigkeit mit sich bringt. Wir schlafen an einer hohen Steilküste, in einem ziemlich magischen Wald, in dem ich nachts leuchtende Pilze finde. Tagsüber treffen wir uns zur Lernzeit: Gerade sind es Wahrnehmungs- und Bewusstseinsübungen, die wir gemeinsam angehen.
Ich selbst übe mich darin noch mehr als sonst im Moment zu leben: Sandburgen bauen, ihrem Verfall zusehen und den Wellen lauschen. Eines Nachmittages beschließe ich zu ein paar Felsen weit draußen im Meer zu schwimmen. Ich vertraue auf mein Glück, doch nach ein paar hundert Metern stellt sich meine Idee als sehr waghalsig heraus. Es ist windig und der Wellengang ist hoch. Ich muss mich entscheiden: Vorzeitig zurückkehren oder es weiter versuchen und eventuell Alles aufs Spiel setzen.
Es fällt mir sehr schwer von meinem Ziel loszulassen, aber als ich mich für meine Umkehr entscheide merke ich, wie schwer es heute ist, gegen die Übermacht des Meeres anzukämpfen. Als ich endlich wieder Boden unter den Füßen spüre, bleibe ich, total erschöpft und überglücklich, noch einige Zeit am Strand liegen. Polnisch kann ich zwar erst wenige Worte sprechen, dafür habe ich aber meine äußersten Grenzen ausgetestet.
- Monat – September – Fiona.
Die Wanderuni neigt sich dem Ende zu. Auf einem alten Schwarzwaldhof präsentieren wir uns gegenseitig unsere Lernergebnisse, diskutieren darüber, welche Gruppenstrukturen sich bewährt haben und wie sich die zwischenmenschlichen Beziehungen untereinander entwickelt haben. Wir sprechen über Erfolge und Misserfolge unserer Reise – freuen uns und bedauern.
Einen runden Abschluss finden wir schließlich dort, wo unsere Reise auch begann: Bei dem herzdenkenden Referenten im Elztal. Durch ihn kann ich endlich entdecken und wertschätzen, was in unserer Mitte alles entstanden ist:
Als Gruppe haben wir uns tatsächlich ein halbes Jahr lang gegenseitig gehalten und angetrieben, bis zum Ende durchzuhalten. Wir haben bewusst an der Gemeinschaftsbildung gearbeitet und dabei auch all den Reibungen und Auseinandersetzungen standgehalten. Wir haben Verantwortung füreinander übernommen und ein „Wir“ entwickelt, uns gleichzeitig aber auch um Raum für Ich-Besinnung und die Herausbildung von Selbstwirksamkeit bemüht.
Durch die Einfachheit unseres Unterwegsseins und die Naturnähe schulten wir unsere Intuition, fanden zu aufmerksamerem Genuss und lernten die Geschenke des Lebens anzunehmen und wertzuschätzen. Ein neues, wohltuendes Grundvertrauen in das Leben und die Menschen versichert uns nun, dass es immer einen Weg gibt.
Ja, es gab auch richtig anstrengende Abschnitte und wir mussten oft über unseren eigenen Schatten springen, doch ich möchte kein einziges Erlebnis davon missen. Und auch wenn wir letztendlich nicht so viel Faktenwissen angehäuft haben, wie in einer regulären Bildungseinrichtung in vergleichbarer Zeit – all die wichtigen Erfahrungen unserer Reise werden uns noch ein Leben lang nutzen und kein Klassenraum oder Vorlesungssaal hätte sie uns vermitteln können.
Wanderuni 2015 – das war für uns vor allem ein geschützter Rahmen für eine ganzheitliche, persönliche Weiterentwicklung. Ein Raum, in dem wir nach unserem Platz in der großen weiten Welt suchen konnten.
Ausblick
Inzwischen ist jeder in seinem eigenen zu Hause angekommen. Es ist ein sonderbares Gefühl nun nicht mehr jeden Tag mit den anderen vertrauten Mitstreitern unterwegs zu sein, sondern seinen Weg wieder ganz alleine zu gehen. Doch die Wanderuni ist für uns damit nicht abgeschlossen – jetzt geht es erst recht darum, das Gelernte in die Tat umzusetzen. So mancher von uns strebt weiterhin einen alternativen Lern- und Lebensweg an: Ob in Gemeinschaft oder auf weiteren Reisen. Einfach in das alte Leben zurückkehren geht oder wollen wir schlicht und einfach nicht mehr!
Darüber hinaus wollen wir auch andere junge Menschen dazu inspirieren, sich auf ihren Weg machen: Zu einem Wanderuni-Planungstreffen am Lebenslernort „Mühle am See“ in Heichelheim kamen zwölf begeisterte Interessenten. Der rege Austausch an dem Wochenende stimmt uns zuversichtlich, dass es auch 2016 wieder eine Wanderuni geben wird. Und auch der ein oder andere denkt über noch ein weiteres Wandersemester nach.
Dieser Artikel erscheint in geänderter Fassung in der OYA – anders denken.anders leben in der Ausgabe Januar/ Februar 2016. Die Kurzkapitel zu den verschiedenen Monaten wurden jeweils von einem Wanderuni-Studenten aus der eigenen Perspektive geschrieben.