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„Zeit ist knapp – gehe sparsam damit um“ und „Zeit ist Geld“ – Ansichten wie solche sind in unserer modernen, westlichen Gesellschaft weit verbreitet. Doch paradoxerweise führen oft genau diese Einstellungen dazu, dass wir durch ein schnelles und turbulentes Leben rennen. Nach dem Schulabschluss, am besten mit Abitur, direkt studieren, oder zumindest eine Ausbildung. Dann nichts wie in die Arbeitswelt, Karriere machen und eine Familie gründen. Bloß keine Zeit verlieren!

Doch wo bleibt da Zeit für uns? Zeit für tiefgehende Lebenserfahrung?

 

Ein halbes Jahr Wanderstudium

„Wir holen uns die Zeit zurück!“, dachten aber wir. Wir, das sind sechs junge Menschen zwischen 20 und 26 Jahren, die zusammengekommen sind, mit dem Bedürfnis unser Leben bewusster und lebendiger zu gestalten. Mit dieser Intention gründeten wir die Wanderuni. Ein Selbstversuch, bei dem wir erproben das Reisen mit dem eigenverantwortlichen Lernen und dem Leben in Gemeinschaft zu verbinden.

P1430205PSeit April sind wir nun bereits zu Fuß und mit einem selbstgebauten Fahrradbus in Deutschland unterwegs, um die wirkliche Welt da draußen, jenseits vom Schreibtisch, zu erkunden. Auf eigene Faust besuchen wir Land und Leute, lernen dabei die Natur und auch Städte näher kennen. Das gemütliche WG-Zimmer haben wir hinter uns gelassen. Alles was wir zum Leben brauchen, passt jetzt in unseren Rucksack.

Auch Bücher gehören zum Lerngepäck, denn jeder von uns hat seine eigenen Interessen und Lernthemen, denen er auf seinem Weg nachgeht. Gleichzeitig arbeiten wir an gemeinsamen Thematiken und laden dazu auch manchmal Referenten (z.B. zu Kräuterkunde oder Resilienztraining) ein.

Doch beim Unterwegssein in der Gruppe lernen wir noch viel mehr jenseits dessen, was als „wissenschaftlich verwertbar“ gilt. Zum gemeinschaftlichen Sein gehören viele Gruppenprozesse dazu. Wir stehen immer wieder vor neuen, gemeinsamen Herausforderungen und es ergeben sich viele wertvolle Momente, in denen wir intensiv voneinander und übereinander lernen – und auch mal über unseren eigenen Schatten springen müssen.

Um Außenstehenden unser Projekt zu erklären, könnte man auch sagen, dass wir uns in all den „Soft-Skills“ üben, die wir zur Bewältigung unseres Lebensalltags brauchen, die in der schulischen und universitären Ausbildung jedoch leider viel zu wenig gefördert werden.

Aber die Wanderuni ist für uns noch viel mehr als das: Sie bietet uns einen geschützten Rahmen für eine ganzheitliche, persönliche Weiterentwicklung. Wir finden hier einen Raum, in dem wir nach uns selbst suchen können, nach dem was uns wirklich begeistert und nach unserem Platz in der großen weiten Welt.

 

Das Zeitgefühl auf Reisen

Auf unserer Reise zu Fuß, oder auf den mit Muskelkraft angetriebenen Rädern, finden wir zurück zur Langsamkeit. Wir bauen eine Verbindung auf zu der Landschaft, die uns umgibt und begleitet. Wir erfahren, wie Gebirge in Flachland übergehen, wie sich die Vegetation und Besiedlung wandeln und wie unterschiedlich die Bevölkerung in den Regionen doch ist. Wir spüren die Natur hautnah, wie die Jahreszeiten ineinander fließen, wie die Tage länger und schließlich wieder kürzer werden. Tageszeiten und Witterung beeinflussen unser Handeln maßgeblich.

Nicht nur, dass wir gemächlicher als mit den herkömmlichen Verkehrsmitteln vorankommen, auch unser Alltag ist frei von Terminen und Verpflichtungen, die wir einhalten müssen. Zwar hatten wir ursprünglich mal einen strengeren Tagesablauf ausgearbeitet, diesen jedoch schnell verworfen. Stattdessen achten wir mehr auf unser Gefühl, entscheiden jeden Tag aufs Neue intuitiv in der Gruppe, was gerade ansteht.

P1420863Unsere Wanderung führt uns mehr in den Moment: Da es für uns keine festen Zeiten mehr einzuhalten gibt, an denen wir uns orientieren können und müssen, werden das Aufstehen und Schlafengehen sowie die täglichen zwei Mahlzeiten zu den einzigen Ankerpunkten. So können wir uns nicht mehr andauernd gedanklich schon zum nächsten Geschehen flüchten, denn wir wissen nicht, was kommen wird und sind so (bestenfalls) im Hier und Jetzt angelangt. Mit einem kleinen Experiment haben wir diese Erfahrung noch weiter ausgereizt: Eine Woche lang verbannten wir alle Uhren, Handys und auch Landkarten in die hintersten Winkel unserer Rucksäcke und richteten uns allein nach den Rhythmen und Hinweisen aus, die die Umgebung uns gab.

Dieser Prozess wird noch weiter dadurch verstärkt, dass uns nur wenig Kapital zur Verfügung steht. Wir sind auf die Unterstützung anderer Mitmenschen angewiesen. Solche sonst so selbstverständlichen Tagesroutinen, wie die Essensbeschaffung oder einen Schlafplatz suchen, erleben wir immer wieder als Abenteuer, bei denen viel Eigeninitiative und Flexibilität gefragt ist. Manchmal ist es nur ein Zeitfenster von wenigen Sekunden, das uns bleibt, um mit netten Menschen in Kontakt zu treten und anschließend ganz viel Gastfreundschaft zu erleben. So zum Beispiel bei einem netten Bauern, der uns seine Scheune zum Schlafen überlässt oder beim Supermarktbesitzer, der uns Gemüse- und Obstrestposten überreicht. Durch Erzählungen über unser Projekt oder kleine Arbeitsverrichtungen versuchen wir stets auch wieder etwas zurückzugeben.

 

Ein Ende ist auch ein Anfang

Ende September endet die halbjährige gemeinsame Lernwanderung und unsere Wege werden sich trennen. Wehmut ist mit dem Gedanken daran verbunden, doch beginnt dann auch wieder eine neue, spannende Reise. Dann gilt es erst recht, das Gelernte im eigenen Leben umzusetzen und die Idee der Wanderuni weitertragen, um so auch andere Menschen zu inspirieren.

Und auch wenn wir sechs dann räumlich getrennt sein werden – so ist doch in der gemeinsamen Zeit eine tiefe Verbindung entstanden, die ewig bleibt.

 

 

Anmerkung

Im Juni führte uns unser Weg durch Geltow. Als wir am späten Abend schon kurz davor waren die Suche nach einem Schlafplatz aufzugeben, wurden wir von einer Familie herzlich aufgenommen und erlebten dort eine sehr schöne Zeit. Beim gemütlichen Zusammensein im Wohnzimmer entstand auch die Idee zu diesem Artikel, der in der örtlichen Kirchenzeitung zu dem Thema Zeit veröffentlicht wird.